ABSINN - Leseprobe

 

Verbracht

Es tat sich ein schrecklicher Verdacht auf in ihr, in dem Moment, als es für sie zu spät war. Der Motor gurrte und der Sicherheitsgurt zog sich wie die sicherste Prognose seit langer Zeit durch ihr Fleisch. Sie ließ sich einsteigen, verführt von den Worten des Mannes am Fahrersitz. Es waren die schönsten Buchstabenmomente, seitdem sie entlassen wurde. Ihre Entlassungspapiere kauerten zerknüllt in ihrer sackartigen Handtasche, direkt neben der leeren Geldbörse. Der Stempel der Entzugsklinik überragte den gesamten Inhalt des Beutels. Als sie den Lippenstift zu ihm gesellte, wischte das Seitenfenster des rostweißen Lieferwagens unter ihren sich selbst küssenden Mund. Er war ihr gefolgt, drei Häuserblocks weit und dann sah er seinen Moment gekommen.

Die Ärzte hatten im letzten Jahr oft versucht, ihren Bekanntenkreis zu durchforsten, ihre alten Gewohnheiten zu brechen und sie damit vor weiterem Schaden zu bewahren, sollte sie entlassen werden. Sie war freiwillig gekommen und blieb über das normale Maß in Verwahrung. Sie teilte ihr Zimmer, spärlich eingerichtet mit dem Notwendigsten, mit einer Frau Mitte 30. Beide waren sie auf Crystal. Doch nur eine wollte diesen Entzug wirklich. Sandra wuchs in einer unangenehmen Gegend auf, hatte eine unangenehme Familie und lernte unangenehme Freunde kennen, wie sie in den Wohlstandsvierteln nicht anzutreffen waren. Sandra schrieb nicht immer ihre eigene Geschichte, sie wurde gezwungen ihr Leben zu leben, so wie es die anderen für sie entwarfen. Sandra überlebte fünf Selbstmordversuche aufgrund ihres eher zaghaften, feigen Durchsetzungsvermögens. Sandra konnte ihr keinen Halt bieten. Sandra wurde keine Stütze und auch keine Freundin, mit der sie über alle Vergangenheit reden konnte. Sandra blieb und sie verließ die Klinik.

Sauber.

Noch immer brummte der V8 des Rostweißen vor sich hin, um so zu tun, als könnte er sich die Ohren damit betäuben. Im Inneren saß eine cleane, neue Selbstbewusste neben ihm. Sie duftete nach nicht besonders teurem Parfum, obwohl sie bestimmt ihre besten Kleider an sich trug.

V8 Drehzahl. Röhren um die Kurve.

Sie versank im wippenden Beifahrersitz, hielt den Gurt tief in sich und ertrank in den einzelnen Regentropfen, die die Windschutzscheibe kühlten. Ein kleiner Spalt im Fahrerfenster entnahm den Qualm der Mentholzigaretten aus seinem Mund. Er lächelte und stellte Fragen, die sonst noch nie jemand in ihrem Leben gestellt hatte.

Sie hatte ihn gesucht, den Neuen. Sie suchte das Abenteuer eines neuen Wortes. In der Klinik berauschte sie sich am Entziehen, den eiskalten Nächten und den schweißdunklen Morgen. Hier, 23:12 flimmerte die Digitalanzeige der schäbigen Mittelkonsole, war sie ang.kommen und fühlte sich unwohl in ihrem Wohlsein. Es war der erste Treffpunkt ihres neuen Lebens ohne Drogen und Manipulation. Sie durfte zum ersten Mal sein, wer sie wirklich sein wollte. Und genau danach hielt er Ausschau. Jahrelang suchte er nach seinem Opfer, beobachtete es durch den herbstlichen Regen, vereinbarte in seinem Kopf, wie und wo er es machen würde, dann stieß er zu. Sein Zustoßen glich einer Lauer, einem verführendem Weg. Er war keiner, der gefangen nehmen könnte. Er war jemand, der fängt. Sein Instrument waren Worte und ihre Schwäche sein Werkzeug.

Sie lächelte neben ihm, verkroch sich innerlich tiefer in den Beifahrersitz und beobachtete den Weg der Straße, den er für sie gewählt hatte. Die Ärzte hatten ihr versichert, sie müsse Alternativen ausprobieren, sie solle sich an Neues wagen, Gegenteile genießen und nicht zurücksteigen auf den Bahnhof ihres alten Lebens. Und dieser Mann neben ihr war das Andere. Er war mehr als ein anderer Zug in ihrem Leben. Er wirkte nicht attraktiv auf sie, unterschied sich von allen anderen Männern in ihrem Bett zuvor. Er war weder muskulös, noch Macho genug, um früher Eindruck bei ihr zu schinden. Er schien nicht wie jemand, der Frauen beherrscht, dominiert und Weg weist. Und dennoch zog er alle Aufmerksamkeit, alle Führung und ihr Ende zu sich heran.

V8 Nicken. Bergauffahrt. Serpentinen.

In der Zwischenwelt aus Vergangenheit und Ende versagte ihr nun der vernünftige Dialog und sie überlegte sich, ob sie ihn bitten könnte, sie nach Hause zu bringen. Sie tat es nicht, flehte stattdessen nach einer Zigarette. Sie bekam sie. Sie rauchte. Das Fenster tat sich einen Spalt weit auf. Durch den Fahrtwind aufgeheiztes Regenwasser durchtriefte ihre Bemühungen elegant zu rauchen, ihren Kummer und ihre Furcht vor diesem Neuen zu kondensieren.

V8 Leerlauf. Waldplatz. Stillsteh.

Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Stift, der sich gleich an ihrer Lippe abzunutzen versuchte und betrachtete den Mann zu ihrer Linken das erste Mal genauer. Seine Worte verstand sie nur zum Teil auf der Fahrt ins Hier. Der Scheibenwischer kratzte quer durch ihre Konzentration, als er sich näherte und sie nach ihren Wünschen fragte. Sie möchte anders sein, die Vergangenheit hinter sich begraben, Gegenteile bepflanzen und nie mehr zurücksehen. Sie möchte g. und fallen. Sie möchte sein und ehren, wer immer sie auch ehrt.

Er versicherte ihr,

V8 Stopp. Scheinwerferkegel.

dass er ihr erfüllen könne, was sie sich wünscht und betrat das Waldgrundstück. Er drückte den Zaun tief ins Unten, damit sie wie ein Preisboxer ins Innere des dunklen Ringes steigen konnte. Wenig grazil und doch elegant lief sie ins Zuerst. Der Scheinwerfer des Rostweißen leuchtete ihnen. Weit genug, um zu erkennen, dass er eine Schere mit sich führte. Sie ließ ihm g.fallen und forderte das Nachher auf, sich zu zeigen. Sie stolperte. Er half. Sie kicherte. Er half. Sie blieb. Er schnitt. Auf dem Boden fand sich einer ihrer Kleiderärmel wieder. Er mischte sich in ihren Atemzug, den sie ihrem neuen Bahnhof entlockte. Sie bemerkte den Stift, dick und schwarz, den er aus seiner Hosentasche zog, folgte ihm und spürte, wie laute Buchstaben in ihrer Haut erschienen.

Momente. Schwarz. Schweigen.

Einige Momente später verschwand der Stift quer durch seinen Mund, er grinste und g.fiel sein Werk. Ihr Arm führte alle Worte des ersten Kennenlernens, des Herunterlassens der Fensterscheibe vorhin. Er kannte sie alle auswendig, um sie nun auf ihr zu verewigen. Es gefiel ihr und B.gierde brach aus. Er merkte sich ihre Augenworte, schrieb sie in ihre Haut und trotze ihnen mit diesem Blick, den Fesseln nicht vermochten. Sie war entführt und lebte nun im Gegenteil. Beide standen sie, der Regen ließ nach und sie bestaunte ihren Arm, auf dem der vorangegangene Dialog prangte.

Schere. Ärmel. Worte.

Nach einigen Minuten war auch ihr zweiter Arm verziert mit schwarzen Buchstaben. »Ich denke, wir sollten jetzt gehen«, trat er in sie. Sie verneinte, benetzte ihre Lippen und r.kniete sich vor ihm. Er drückte seine Hände fest an ihre Wangen, wärmte sie und wünschte sich, dass alles schon zu Ende wäre. Er ging einige Schritte um sie herum, bis er hinter ihr zu stehen kam und strich ihre Haare über die Schultern. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und r.sehnte seinen Kuss, seine Zärtlichkeit. Kein Regen fiel in ihr G.sicht. Sie fiel in den Regen. Er tauchte ihren Kopf nach vorne, umfasste ihren Hals und Hinterkopf, presste ihn weiter nach unten auf den Baumstumpf, kaum zehn Zentimeter mehr spitz als breit und bekniete ihren Mund darauf. Das Holz presste sich in ihren Rachen, bohrte sich hindurch und trat aufgrund des mächtigen Trittes auf ihren Hinterkopf im Nacken wieder aus.

Sie zitterte und ein Schwall nachtschwarzen Blutes verschlammte den Untergrund. Fein und sauber zog er sie aus, nahm seinen Stift aus der Tasche und beendete den Dialog auf ihrer Haut. Keine Körperstelle ließ er aus, bis auf ihr Gesicht. Es lag in Blut und Matsch. Er wollte es nicht mehr sehen, einfach nur vollenden, was sie b.gann.

So lag sie da, als die Polizei sie fand. 31 Jahre alt und vollg.schmiert mit schwarzen Worten. Jegliche Spuren des Täters wurden vom dichten Regen der folgenden Momente erstickt.

    las der Kommissar den Anwesenden vor, diesen Zettel mit Geschriebenem in der Hand. Vor ihnen lag sie. Ein 31-jähriges Mordopfer, vollgeschmiert mit schwarzen Worten.

 

Und gepfählt.